Heute brauchen akademisch gebildete Flüchtlinge noch Glück
Text und Fotos: Roger Wehrli Studieren ist für Asylsuchende ein Hürdenlauf, obwohl es unterdessen Förderungsprogramme gibt. Wie unterschiedlich die Erfahrungen dabei sein können, zeigen die Geschichten der Iranerin Fatemeh Amouy und der Ukrainerin Kseniia Babich.
Vor vier Jahren floh die 29-jährige Iranerin Fatemeh Amouy in die Schweiz. Im Gepäck hatte sie einen Bachelor in Jura. Der im Iran erworbene Abschluss ist hier jedoch wenig wert. Zahlreichen anderen geflüchteten Studierenden sowie Akademikerinnen und Akademikern ergeht es wie Amouy: Ihre in der Heimat erworbenen Abschlüsse sind hier zumeist nicht gültig. Sie kann verstehen, dass ihr Abschluss nicht anerkannt wird. Amouy wollte aber auf ihrem erworbenen Wissen aufbauen können. «Gleich nach meiner Ankunft in der Schweiz habe ich damit begonnen, Deutsch zu lernen», erzählt sie. «Zuerst im Internet, danach besuchte ich einen Gratiskurs an der Berufsbildungsschule in Zürich.»
Wenn die akademische Ausbildung nicht mehr zählt Der Schlüssel zur Weiterbildung an einer Universität oder Fachhochschule ist die Sprache. Flüchtlinge haben es oft schwer, Zugang zu weiterführenden Sprachkursen und
Ausländische Abschlüsse sind hier zumeist nicht gültig.
Zulassungsprüfungen zu finden. Dies verzögert oder verhindert die Weiterführung des Studiums. Es besteht die Gefahr einer Dequalifizierung, was oft zur Folge hat, dass Männer und Frauen mit akademischer Ausbildung zum Beispiel als Putzkräfte arbeiten müssen. Genaue Zahlen dazu, wie viele Geflüchtete mit akademischem Hintergrund in die Schweiz kommen, fehlen bislang. In Deutschland hat jede fünfte geflüchtete Person einen Berufsbildungs- oder Hochschulabschluss und rund ein Drittel hat eine weiterführende Schule abgeschlossen.
Noch kaum Chancengleichheit beim Hochschulzugang Die Universitäten und Hochschulen der Schweiz haben das Problem der möglichen Dequalifizierung erkannt. Sie haben verschiedene Einführungs- und Weiterbildungskurse organisiert oder, wie die Universität Luzern, Fonds zur Unterstützung geflüchteter Studentinnen und Studenten eingerichtet. Diese unterschiedlichen Vorgehensweisen führen jedoch dazu, dass es je nach Universität grosse Unterschiede im Bereich der Förderung akademischer Flüchtlinge gibt. Der Verband der Schweizer Studierendenschaften (VSS) bemüht sich seit Jahren um mehr Chancengleichheit beim Hochschulzugang. Zu diesem Zweck lancierte der Verband 2016 das Projekt «Perspektiven - Studium». Unterdessen ist sich auch die Politik des Problems bewusst geworden.
Im Bundesparlament wurden schon verschiedene Vorstösse dazu lanciert. Im Mai 2022 hat die Eidgenössische Migrationskommission (EKM) nun gemeinsam mit dem VSS zu einer Diskussionsrunde zum Thema «Studieren nach der Flucht» nach Bern eingeladen. Daran nahmen unter anderem Flüchtlinge sowie rund 70 Vertreterinnen und Vertreter von nationalen und kantonalen Behörden, von verschiedenen Hochschulen und aus der Politik teil.
Asylunterkunft - zum Lernen ungeeignet Mit dabei am runden Tisch war auch Fatemeh Amouy. Sie wäre bei ihrer Ankunft in der Schweiz ebenfalls froh gewesen, hätten die Behörden sie besser unterstützt. Ihre Asylunterkunft lag fernab in den Bergen. Um trotzdem amDeutschkurs teilnehmen zu können, sei sie jeweils um vier Uhr morgens aufgestanden, zwei Stunden nach Zürich und abends dieselbe Strecke zurückgereist. Das hinderte die energische Frohnatur jedoch keineswegs daran, ihr Ziel zu verfolgen. Amouy wollte unbedingt an die Universität und Anwältin werden. Eine Professorin bot ihr schliesslich an, bei ihr zu wohnen. Fatemeh nahm das Angebot gerne an. «In der überfüllten Asylunterkunft hätte ich die zum Lernen nötige Ruhe nicht gehabt», sagt sie. Und diese Ruhe war sehr wichtig, denn um an der Universität Zürich zugelassen zu werden, benötigte sie zunächst einen Abschluss in Deutsch mit Niveau Cl.
Ein Jahr lang Sprache, Mathe, IT und Networking Ein weiterer wichtiger Schritt auf Amouys Weg war die Zulassung zum Integrationsvorkurs. Das «START! Studium» genannte Programm der Uni Zürich bereitet Flüchtlinge mit Potenzial für ein Hochschulstudium ein Jahr lang auf die kommenden Herausforderungen vor. ImVordergrund steht dabei die Förderung der Sprachen Deutsch und Englisch, aber auch Mathematik und IT
«In der Asylunterkunft hätte ich die zumLernen nötige Ruhe nicht gehabt.»
sowie wirtschaftliches Arbeiten kommen nicht zu kurz. Ausserdem erhalten die angehenden Studierenden Einblick in Inhalte und Ausbildungsmöglichkeiten von Schweizer Hochschulen. Nicht zu unterschätzen sind auch die Möglichkeiten, sich zu vernetzen. Das war für Amouy von Beginn weg kein Problem. Schon jetzt politisiert sie bei den Grünen und besucht regelmässig eine reformierte Kirchgemeinde - vor allem deshalb, weil ihr die Leute dort behagen.
Die Iranerin weiss auch, was sie nach dem Ende des Studiums tun wird: «Ich möchte als Juristin arbeiten und den Master in Migrationsrecht machen. Es gibt noch so vieles, was wir verbessern müssen. Zum Beispiel in Sachen Stipendien oder Prüfungszeitverlängerungen, damit die Fremdsprachigen nicht mehr diskriminiert werden. Ausserdem wäre es wichtig, dass jede Studentin und jeder Student eine Mentorin an der Seite hat.»
Anderes Herkunftsland, andere Schwierigkeiten
Fatemeh Amouy ist vier Jahre nach ihrer Flucht definitiv in der Schweiz angekommen. Das verdankt sie abgesehen von ihrem starken Willen und Ehrgeiz auch ein wenig den Förderprogrammen. Das Gefühl, dass sie ein paar Hürden zu viel meistern musste, bleibt aber bestehen. Doch der Weg in die Schweiz sieht nicht für alle gleich aus. Anzahl und Art der Hindernisse variieren je nach Herkunftsland und anderen Faktoren. Das zeigt das Beispiel der 20-jährigen Kseniia Babich aus dem ukrainischen Odessa, der es ganz anders als Amouy erging. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine war es für die Studentin einfach, nach Zürich zu gelangen. Dies hat ausser dem Solidaritätsgedanken noch einen anderen Grund: Die Universitäten Odessa und Zürich sind durch ein bilaterales Abkommen miteinander verbunden. Babich studierte in der Ukraine Rechtswissenschaften: «Vom Institute of Europe kamen auch immer wieder Gastdozenten aus Zürich nach Odessa», erinnert sich die junge Frau. «Sie referierten über Europarecht sowie die Besonderheiten des Schweizer Rechts.» In Zürich hat Babich die Möglichkeit, ihr Studium als Gaststudentin auf Englisch fortzusetzen. Parallel dazu studiert sie weiterhin online an der Universität von Odessa, was es ihr ermöglicht, im Studienjahr 2022/2023 ihr Bachelorstudium abzuschliessen.
Die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Hause bleibt
Obwohl es der jungen Ukrainerin in Zürich gut gefällt, hofft sie, ihr Studium in Odessa abschliessen zu können. «Ich denke immer an meine Heimat und an meine Universität, für die ich mich mit Leib und Seele einsetze», sagt die junge Frau mit gefasster Stimme. «Wenn sich die Möglichkeit bietet, zurückzukehren, bringe ich all die Erfahrungen, die ich an einer der besten Universitäten - der Universität Zürich - gesammelt habe, zurück in mein Odessa.»
Quelle: ARGUS DATA INSIGHTS® Schweiz AG